Ein Blog von Felix Nickel


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Sonntag, 1. Februar 2009

Vom Reiz des Neuen und dem Wert des Alten


23. Januar 2009 – Es ist halb zehn, die Sonne lacht an einem azurblauen Himmel und bringt mich gehörig ins Schwitzen als ich mit meinem klapprigen Fahrrad eine schnurgerade staubige Hauptstra-ße entlangfahre. Es ist rush hour und etliche Mopeds, Motorroller, Motorräder und Autos sind un-terwegs. Mit einem lauten Hupen nähert sich ein Bus und als er an mir vorrüberfährt winkt mir ein junger Mann zu, der mit akrobatischer Anstrengung mit etwa fünf anderen Männern auf dem Tritt-brett des hoffnungslos überfüllten Busses mitfährt.
Während sich auf meiner Stirn langsam die ersten Schweißperlen sammeln, liegt das Gelände der Lichtenberg-Schule jetzt noch in tiefster Dunkelheit. Im über 7500 km entfernten Deutschland ist es erst fünf Uhr morgens. In einer Stunde werden die ersten Wecker der Oberstufenschüler klingeln, die sich dann zur nullten Stunde in die Schule schleppen werden. Natürlich nicht ohne sich vorher in dicke Jacken gehüllt zu haben. Sie werden über Integralen brüten und versuchen Kafka’s Parabeln zu deuten, über das Freihandelsprinzip diskutieren und die Wiedervereinigung Deutschlands erörtern. 7000 Kilometer von Deutschland entfernt, scheint dies mittlerweile für mich zu einem völlig anderen, längst abgeschlossenen Lebensabschnitt zu gehören. Das Zittern über die Abiturergebnisse liegt erst acht Monate zurück und seit September 2008 bin ich als Freiwilliger von „Brot für die Welt“ in Madurai, einer südindischen „Kleinstadt“ mit etwa 1,1 Millionen Einwohnern.

In manchen Momenten kann ich es immer noch nicht glauben, hier zu sein. Dann denke ich darüber nach, warum ich mich zu diesem Schritt entschlossen habe. Meinen kleinen Beitrag dazu zu leisten, unsere Welt gerechter zu machen und denen zu helfen, die sich alleine nur schwer Gehör verschaffen können, war einer meiner Beweggründe. Doch es gab auch ein drängendes Gefühl, dass ich nach 13 Jahren Schule das wohlbehütete Deutschland und das doch recht reichen Westuropa hinter mir lassen musste, um aus einer neuen Perspektive auf mich, Deutschland, den Westen blicken zu können. Bisher hatte ich immer nur von Europa, einer Insel der Reichen und Privilegierten, auf unsere Welt geblickt. Es war also eine wahre Gier nach Neuem, die gestillt werden wollte.
In den Nachrichten hatte ich 2007 von einem neuen Programm des Bundesministeriums für Wirt-schaftliche Zusammenarbeit gehört, dass es jungen Erwachsenen ermöglichen sollte für eine längere Zeit in einem Entwicklungsland oder Schwellenland zu leben und dort als Freiwilliger im Bereich der Entwicklungshilfe zu arbeiten. Was es heißt, in einem solchen Land zu leben, konnte ich mir nicht vorstellen. Wie würde ich als Weißer aus dem reichen Europa in einem Land angesehen werden, in dem bittere Armut herrscht? Wie leben die Menschen mit dem Elend? Was können wir von diesen Menschen lernen? Wie kann man ihnen helfen? Was macht ihre Kultur aus? Welch Einstellung haben sie zum Leben? Fragen über Fragen.
Um diese Fragen beantworten zu können und den Drang nach Neuem zu befriedigen verlangte ich mir, aber auch meiner Familie und meinen Freunden, Einiges ab und tue dies noch immer. Um Neues, Unbekanntes zu erfahren, musste ich das Alte, das Bekannte hinter mir lassen und damit Familie, Freunde und auch meine bekannte Umgebung. Es war diese „Schutzhülle“, die mich für Jahre umgeben hatte, in der es mir gerade im letzten Schuljahr irgendwie zu bequem und zu sicher geworden war. Alles schien so vorhersehbar, als handelte es sich um eine ständig wiederkehrende Zeitschleife. Ich merkte, dass diese Schutzhülle zwar bequem war mit ihren vielen Annehmlichkeiten, aber mir wurde immer deutlicher, dass ich sie verlassen musste um einmal einen anderen Blickwinkel einnehmen zu können. Doch es war nicht leicht, diese Hülle zu ver-lassen; als ich mich von meinen Freunden und am Tag meines Abflugs auch von meinen Eltern verabschieden musste, hatte ich mehr als nur einen Kloß im Hals. Doch um meine Neugier zu befriedigen, musste ich dieses „Opfer“ bringen. Traurig, alles hinter mir lassen zu müssen und wiederum in freudiger Erwartung auf das Neue hob ich am ersten September um kurz vor Acht vom Frankfurter Flughafen ab und ging „weltwärts“, so der Name des Programms, das Heidemarie Wieczorek-Zeul ins Leben gerufen hat.

Die „Gier“ nach Neuem sollte in Indien auf der einen Seite gestillt und auf der anderen Seite weiter wachsen, denn in dieser völlig fremden Umgebung gibt es fast täglich neue, unbekannte Dinge zu entdecken. Anfänglich war jeder Schritt hinaus auf die Straße verbunden mit einer wahren Flut von neuen, kuriosen, bedrückenden aber auch fröhlich stimmenden Szenen. Mit meinem Bedürfnis etwas zu tun und mit meiner Neugier aus der das Fernweh entstand hatte also alles begonnen. Der Aufenthalt in diesem Land der Kontraste zwischen 5 Sterne Hotels und Slums, Hochtechnologie und archaischer Landwirtschaft verändert mich, das kann ich heute schon sagen. Bildung im klassischen Sinne ist am ehesten die Arbeit in der Menschenrechtsorganisation. Dort kann ich Wissen darüber sammeln, wie es in Indien um die Menschenrechte bestellt ist. Berichte von Folterfällen haben mich aufgeschreckt und mein Bild von Indien verändert. War Indien für mich vor diesem Aufenthalt vor allem mit Gandhi, Computerspezialisten, Saris und dem Titel der größten Demokratie der Welt konnotiert, so hat sich mein Blickwinkel nun verändert. Ich sehe einen Staat der geplagt ist von der Geisel der Korruption und Vetternwirtschaft und der Ungerechtigkeit vor allem den Schwächsten gegenüber. „Alles was zählte war die Größe deines Bauches. Jeder mit einem Bierbauch konnte aufsteigen.” So schrieb Aravin Adiga in seinem Bestseller „The White Tiger“ und bringt die Macht des Geldes in Indien auf den Punkt. Meine Arbeit füllt dieses Zitat mit den Geschehnissen einer teilweise sehr erschreckenden indischen Realität. Diese Einsichten und das Wissen, das ich hier sammele, kann man also als Bildung im klassischen Sinne bezeichnen. Darüber hinaus lerne ich auch Teile der indischen Kultur kennen – Vom Hinduismus, über Musik bis hin zu Heiratsriten.
Neben dieser Bildung, die sich auf das Land mit seinen Menschen und Eigenarten, aber auch Problemen, also meine Umwelt bezieht, merke ich nun nach der Hälfte der Zeit, dass dieser Aufenthalt mich auch als Persönlichkeit verändert, dass diese vielen Eindrücke mich „weiterbilden“. In dieser völlig fremden Umgebung blicke ich viel aufmerksamer auf mich selber und kann mich aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Durch das Leben in Indien erfahre ich mich ebenfalls neu und entdecke neue Seiten an mir oder betrachte schon bekannte anders. Die große Entfernung von Deutschland lässt jedoch nicht nur einen anderen Blick auf mich zu sondern auch auf meine Heimat und die Menschen dort.
Neues kennen lernen, bedeutet für mich nicht, das Alte komplett hinter sich zu lassen, sondern vor allem auch das Alte besser schätzen zu wissen. Der Wert von Familie und Freunden, die mich auffingen, wenn es mir mal schlecht ging, ist mir vor allem in jenen Momenten vor Augen geführt worden, in denen mich die Extremsituation, die ein solcher Aufenthalt ja ist, überforderte. Auch als ich Weihnachten zwar an einem weißen Sandstrand, aber ohne die Familie verbrachte, wurde mir klar, wie wertvoll Familie doch ist. Generell ist mir hier deutlich geworden, welch ein glücklicher Zufall es doch ist, dass ich im reichen Deutschland geboren wurde. Viele Dinge, von denen die meisten Menschen, die ich in Madurai auf der Straße sehe, kaum zu träumen vermögen, werden bei uns, in einem der reichsten Länder der Welt ganz selbstverständlich hingenommen. Den Wert unseres Rechtsstaates oder unseres funktionierenden Schulsystems habe ich hier noch einmal drastisch vor Augen geführt bekommen.

Wo am Beginn Neugier stand, bemerke ich jetzt, dass sich mein Wissen, meine Persönlichkeit und meine Wertschätzung weiterentwickelt, „weitergebildet“ haben. Wenn Anfang Juli 2009 Madurai unter mir immer kleiner wird und ich wieder nach Deutschland fliege, liegt ein Abschnitt hinter mir, der mich in den unterschiedlichsten Bereichen Neues gelehrt und dadurch Altes verändert oder gefestigt hat.

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