Ein Blog von Felix Nickel


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Freitag, 24. Juli 2009

Turban, Dolch und Massenspeisung
Ein Besuch bei den Sikh

Stetiger Gesang, begleitet von Trommelrhythmen und Harmoniumklängen, weht durch die Luft. Ein reich verziertes Gebäude, das fast komplett mit Gold verkleidet ist, funkelt in der Sonne. Es spiegelt sich in der Mitte eines künstlichen Sees, der von einem gleißend weißen Gebäude eingerahmt wird. Mit seinen Arkaden und dem Marmorboden erinnert diese Anlage ein bisschen an einen Maharadscha-Palast.


Zahlreiche vollbärtige Männer mit bunten Turbanen sowie einem Krummdolch am Gürtel und Frauen in farbenfroher Kleidung wandeln auf dem mit Marmor-platten gepflasterten Platz um den See. Es ist solch ein Bild, das sich vor meinem geistigen Auge ausbreitete als ich im Kindesalter Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht las, nur, dass alles, was ich im Augenblick sehe, eben kein Märchen ist.
Ich bin in Amritsar, einer Stadt im nordwestlichen Bundesstaat Punjab, etwa dreißig Kilometer von der indisch-pakistanischen Grenze entfernt. Die Gebäude um mich herum gehören nicht zu einem Maharadscha-Palast, sondern zum „Harmandir Sahib“, besser bekannt als „Goldener Tempel“, dem höchsten Heiligtum der Sikhs.

Eine junge Religion
Der Sikhismus ist eine im 15. Jahrhundert im Punjab (Nord-Indien) entstandene Religion, die auf den Stifter Guru Nanak zurückgeht. Weltweit gibt es 20 Millionen Menschen die Anhänger dieses Glaubens sind der zu den jüngsten monotheistischen Weltreligionen zählt.
In Deutschland leben etwa zehntausend Sikhs, vor allem in Ballungszentren wie Frankfurt am Main, Köln, Hamburg und Stuttgart. Auch in Kassel gibt es ein kleine Sikhgemeinde.
Mehr Informationen zu dem Glauben der Sikh gibt es hier


Die Männer mit ihren Turbanen sind es, die bei uns in Deutschland oft mit dem Bild eines „typischen“ Inders verbunden werden. Immerhin, hier im Bundesstaat Punjab sind über zwei Drittel der Bevölkerung Anhänger dieser jüngsten monotheistischen Weltreligion. Doch gemessen an der mehrheitlich hinduistischen Gesamtbevölkerung Indiens, ist die Gemeinschaft der Sikhs mit ihren etwa zwanzig Millionen Gläubigen nur eine kleine Minderheit. Doch das Selbstbewusstsein der Sikhs scheint das nicht zu beeinflussen. „Wir Sikhs waren die einzigen, die jemals Afghanistan beherrscht haben“, berichtet Suraj Singh, ein Textilhändler aus Delhi, uns stolz. Jegliche spätere militärische Interventionen anderer Mächte seien in diesem Land gescheitert, erzählt er, während er uns durch die Küche der tempeleigenen Großkantine führt. Mit ihren gigantischen Ausmaßen könnte diese Küche auch eine ganze Armee versorgen. Hier geht es aber um die tausenden friedlichen Pilger und anderen Besucher des Tempels, die ungeachtet der Religionszugehörigkeit mit kostenlosen Mahlzeiten versorgt werden.


Zwei Männer rühren gut gelaunt mit Kellen, die so groß wie Schippen sind, Dal, ein typisch indisches Linsengericht, um, das in einem mannshohen Bottich brodelt. In einer anderen Ecke spuckt eine Maschine im Sekundentakt Chapatti, gebackene Weizenmehlfladen, aus. Seit etwa vierhundert Jahren sei die Küche nie erloschen, erzählt Suraj Singh und tatsächlich kann man hier auch noch weit nach Mitternacht etwas essen. Alle Bereiche der Küche, vom Einkauf, über das Schälen und Schneiden der Zutaten bis zur Zubereitung und der Essensverteilung, sowie dem traditionell fünfstufigen Abwasch des Metallgeschirrs werden allein von freiwilligen Helfern durchgeführt. Die gemeinschaftlichen Massenspeisungen gehören schon seit den Anfangszeiten zur Tradition der Sikhs, in der auch die grundlegenden Sikh Prinzipien von Dienst, Bescheidenheit und Gleichheit zum tragen kommen.
Hier in der Großkantine sehe ich eine ganz untypische Seite Indiens, einen Ort an dem alles bis ins Detail organisiert und ohne Chaos abläuft. Wenn dann jedoch die Menschen in den Essenssaal stürmen, ist von Ordnung erstmal keine Spur zu finden.
Vor allem von der großen Anzahl der Menschen, die im Tempel entweder friedlich ihrem Glauben nachgehen, oder ihn, egal welcher Religion zugehörig, einfach nur besichtigten, beeindruckt mich. Dieses Bild wird auch nicht von den vielen Sikhmännern mit ihren Dolchen beeinträchtigt. Das Tragen dieser Waffe, die heute im Übrigen meist billige Blechattrappen „Made in China“ sind, zeigt nicht etwa eine stetige Gewaltbereitschaft des Trägers. Der kleine Dolch ist eines von fünf Symbolen, mit dem Angehörige eines bestimmten Sikh-Orden die Werte Selbstachtung, Gnade und Gerechtigkeit symbolisieren.


Die Impressionen einer friedlichen Glaubensgemeinschaft, die ich aus Amritsar mitnahm, passten dann nicht zu dem Attentat auf einen wichtigen Sikh-Prediger in Wien. Erst nach meiner Rückkehr nach Madurai und der besorgten Nachfrage eines Kollegen, ob es denn nicht gefährlich in Amritsar gewesen sei, wurde ich auf die Geschehnisse aufmerksam. Das Attentat fand kurz nach meinem Aufenthalt in Amritsar statt. Es löste in Punjab bei den Anhängern des Predigers, der das Oberhaupt einer bedeutenden Sikh-Glaubensströmung ist, heftige Demonstrationen und spontane Gewaltausbrüche aus. In mehreren Städten des Punjab wurden daraufhin Ausgangssperren verhängt.
Dass die große Mehrheit der Sikhs nicht nur friedlich, sondern auch ausgesprochen freundlich und hilfsbereit ist, das konnte ich in Amritsar selber erfahren.


Dieser Artikel erschien am 11. Juli 2009 in der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen